Mindset India - Interkulturelles Training, interkulturelles Coaching und interkulturelle Beratung für Indien
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Der indischen Mindset, Teil II: Kontext ist alles!

Wie im Beitrag vom 8.12.2008 angekündigt möchten wir Ihnen den indischen Mindset in einer Reihe von kleinen Artikeln näher bringen. Nach der Einführung, die sich mit der Frage beschäftigt hat, ob es überhaupt so etwas wie einen indischen Mindset gibt, möchte ich in diesem Beitrag auf das herausragenste Merkmal des indischen Mindset eingehen.

Der niederländische Sozialwissenschaftler F. Trompenaars hat eine Reihe von Kategorien entwickelt, um die Verschiedenheiten der Kulturen zu beschreiben (Trompenaars 2004). Eines von den acht Gegensatzpaaren, die er entworfen hat, ist Universalismus und Partikularismus. Dieses Gegensatzpaar eignet sich am besten, um die Besonderheiten des indischen Mindset herauszuarbeiten.

Trompenaars hat folgendes Szenario in dem oben zitierten Buch vorgestellt, um deutlich zu machen, was mit Universalismus beziehungsweise Partikularismus gemeint ist:
»Sie sind Beifahrer in einem Auto, das von einem guten Freund gesteuert wird. Er fährt einen Fußgänger an. Sie wissen das er mindestens 50 km/h gefahren ist, obwohl maximal 30 km/h erlaubt waren. Es gibt keine Zeugen. Sein Anwalt machte Ihnen klar: wenn Sie bereit sind zu beeiden dass er nur 30 km/H. gefahren ist wird ihm das schwer wiegende Folgen ersparen. Hat er als ihr Freund ein Recht, von ihnen Hilfe zu erwarten?«
Trompenaars hat diese Frage ungefähr 50.000 Managern weltweit gestellt. 84 % der Deutschen, die befragt wurden, gaben an, dass der Freund kein oder nur ein eingeschränktes Recht habe, von dem anderen Hilfe zu erwarten. In Indien dagegen waren circa 50 % der Meinung, dass der Freund ein eindeutiges Recht habe, Hilfe zu erwarten.

Was unterscheidet Universalismus und Partikularismus? Ein Universalist geht davon aus, dass für alle Menschen, zu allen Zeiten, in allen Umständen, an allen Orten die gleichen Gesetze gelten. Partikularismus dagegen bedeutet, dass immer der Kontext in Betracht gezogen werden muss. Die Beziehung zu der Person, mit der man im Auto sitzt, während der Unfall passiert, ist von entscheidender Bedeutung für das eigene Verhalten.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Deutsche oft schockiert sind, wenn sie im Ausland mit partikularistischen Verhaltensweisen konfrontiert werden. Sie widersprechen unserem Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden zutiefst. Wir empfinden sie als vormodern, als willkürlich und ungerecht. Indien ist ein Rechtsstaat, dessen Verfassung vorschreibt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind – ähnlich wie in allen anderen modernen Staaten. Der einzelne dagegen macht sein Verhalten jedoch gewöhnlich am Kontext fest. Oft stelle ich in meinen Seminaren den Teilnehmern die obige Frage. Interessanterweise kommen auch in Deutschland oft Gegenfragen wie »Ist es ein guter Freund?«, »Wie lange kenne ich die Person?« etc. Diesen Versuch der Kontextualisierung des Geschehens beobachtet man Indien jedoch viel öfter als in Deutschland. Für viele Inder scheint es undenkbarer, dieses Szenario in einem kontextfreien Raum adäquat zu bewerten.

A.K. Ramanujan (1989) sieht in dem Bedürfnis zur Kontextualisierung den eigentlichen Schlüssel, den indischen Mindset zu verstehen. Universale Regeln griffen nur dann, wenn es keine aus dem Kontext heraus anwendbare Regel gäbe (ebd., S. 48). Sensibilität für den Kontext ist sicherlich keine Eigenschaft, die man nur in Indien findet. Aber es gibt wenige Kulturen, in denen der Kontext derart wichtig ist wie in der indischen. Die Gründe dafür liegen sicherlich in der Geschichte Indiens, ihrer religiösen Schriften, Philosophen und Denkern. Spannend bleibt aber die Frage, warum gerade in Indien eine derart kontextsensible Art des Denkens, des Verhaltens und der Kommunikation entwickelt wurde. Zum Beispiel ist es eines der vornehmsten Bemühungen der indischen Philosophen, die Welt und ihre Bestandteile in verschiedene Kategorien einzuordnen. Jedes Element ist immer Bestandteil eines anderen, übergeordneten Elements und findet so seinen festen Platz in der Schöpfung. Die Suche nach universellen Prinzipien, nach universaler Moral, wie sie zum Beispiel von Kant betrieben wurde, ist in Indien eher eine Seltenheit.

Die Schriften des alten Indiens schreiben jedem Menschen sein eigenes Dharma, d.h. sein eigens Recht, seine eigene Moral und seinen eigenen Verhaltenskodex zu. Der svadharma, also der Dharma des einzelnen, wird immer vom Kontext seiner Umgebung bestimmt: also von seiner Herkunft, seiner Beschäftigung, der Zeit, in der er lebt, dem Teil Indiens, in dem er geboren ist und seiner Religion. Es gibt kein einheitliches Dharma - jeder Mensch, jede Kaste, jede Unterkaste hat ihr eigenes Dharma. Selbst die großen Universalreligionen - Christentum und Islam - sind von der indischen Eigenart der Kontextualisierung betroffen worden und haben eigene Spielarten entwickelt.

Es lohnt sich, die historischen Gründe für die Kontextualisierung an anderer Stelle weiterzuverfolgen. In diesem Beitrag möchte ich nur auf die indische Eigenart der Kontextualisierung als Phänomen und Besonderheit des indischen Mindset aufmerksam machen. Auch das moderne Indien, wie man es in den Städten Indiens findet, kann man mit Fug und Recht als einen relativ neuen Kontext betrachten, der ohne Probleme neben all den anderen Kontexten koexistieren kann (Ramanujan 1989 S. 57.). Dem Hang zur Kontextualisierung begegnet man also auch in der heutigen Geschäftswelt Indiens auf Schritt und Tritt. Viele unserer deutschen Seminarteilnehmer sind oft verwundert, wenn sie mit diesem Phänomen konfrontiert werden.

Sinn und Zweck unserer interkulturellen Trainings ist daher auch, den Teilnehmern die Möglichkeit zu geben, sich auf diese Eigenheit der Inder einzustellen – beziehungsweise sich auf das Fehlen dieser Eigenheit einzustellen, wenn es sich um Trainings für Inder handelt. Es ist nicht immer leicht, Deutsche von der Daseinsberechtigung kontextbezogener Kommunikationsstile zu überzeugen. Viele deutsche Seminarteilnehmer ordnen solchen Kommunikationsstile fast ausschließlich dem Privatleben zu und sind der Ansicht, dass in der Geschäftswelt nur ein direkter und kontextfreier Kommunikationsstil nützlich sein kann. Indischen - und oft auch südeuropäischen - Seminarteilnehmern erscheint die deutsche, kontextfreie Art der Kommunikation sehr knapp, sehr nüchtern und viel zu militärisch. Manchmal wird sie auch als verletzend empfunden. Der Kontext ist ja im Allgemeinen ein Geschäftstreffen und kein Manöver auf dem Truppenübungsplatz. Kontextfreie Kommunikation kann manchmal auch wesentlich länger dauern, da nichts impliziert wird und aus dem Kontext heraus deutlich wird, sondern alles immer haarklein aufgezählt werden muss. Gerade, wenn es darum geht, sich auf andere Kommunikationsstile einzustellen, wird deutlich, warum man von einem interkulturellen Training spricht: mit einem einfachen Aufzählen der Eigenheiten einer anderen Kultur ist es nicht getan. Man muss tatsächlich trainieren, den anderen Kommunikationsstil – kontextfrei oder kontextbezogen – souverän zu verstehen und anwenden zu können.

Gerade in Indien lohnt es sich, die kontextbezogene Art und Weise der Kommunikation immer im Hinterkopf zu behalten. Auch in der Geschäftswelt läuft vieles besser und kann sogar Spaß machen, wenn man auf den Kontext achtet. Kontexte sind variabel und können auch zum eigenen Vorteil verändert werden. Lässt man in einer Geschäftsbeziehung auch Privates zu, verändert sich damit der Kontext der Geschäftsbeziehung. Das kann unter Umständen sehr positive Auswirkungen auf die Konditionen, Lieferzeiten, Einhaltung der Qualitätsstandards etc. haben. Lassen Sie sich überraschen!

Literaturangaben:
Ramanujan, A. K. 1989. Is there an Indian way of thinking?: An informal essay. Contribution to Indian Sociology 23, 41–58.
Trompenaars, Fons & Woolliams, Peter 2004. Business weltweit: Der Weg zum interkulturellen Management. Hamburg: Murmann